Wanderung in den Seealpen  [ 30.08. – 09.09.2013 ]

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Felszeichnung im Vallée des Merveilles

Zwischen Cuneo und Nizza liegt die südlichste Gebirgsgruppe der Alpen – die Seealpen. Wir durchwanderten einen kleinen Teil davon auf einer elftägigen Runde im Grenzgebiet zwischen Italien und Frankreich. Unter anderem besuchten wir das Vallée des Merveilles im französischen Mercantour-Nationalpark und bestiegen mit dem Monte Argentera auch den höchsten Gipfel der Gegend.

[ Landkarte mit den Tagesetappen ]

Wie in vielen südlichen Alpenregionen ist auch in den Seealpen ein Großteil der Bewohner in den vergangenen zweihundert Jahren in die größeren Städte abgewandert. Landwirtschaft wurde in den engen Tälern zu mühsam, für die Tourismusindustrie ist die Gegend nicht spektakulär genug, vielleicht auch zu abgelegen, und in den urbanen Regionen lockten die Arbeitsplätze der Industrie. So entvölkerten sich die kleinen Bergdörfer nach und nach.
An verschiedenen Stellen deuten verfallende alte Militärwege und Befestigungen noch darauf hin, dass das Gebiet – wie viele Grenzregionen in den Alpen – einst zumindest militärstrategisch wichtig war.
Auch als Jagdrevier geschätzt: Vittorio Emanuele II ging im 19. Jahrhundert im Valle Valasco auf Gämsenjagd. Heutzutage würde er dort vielleicht Steinböcke jagen; die wurden vor etwa hundert Jahren in den Seealpen ausgesetzt und haben sich inzwischen zu einer robusten Population entwickelt.
Seit einigen Jahrzehnten sind Flora und Fauna im Kerngebiet der Seealpen durch zwei zusammenhängende Nationalparks besonders geschützt, in Frankreich ist das der »Parc national du Mercantour«, in Italien der »Parco Naturale Alpi Marittime«. Insgesamt hat man hier somit ideale Voraussetzungen für einsame naturnahe Trekkingtouren.

Wir starten zu unserer Tour in Sant'Anna Valdieri, einem kleinen Bergdorf, das wir am Vormittag von Turin aus über Cuneo per Bahn und Bus erreicht hatten. Angenehme Wanderwege führen uns bergauf bis zum Rifugio Dante Livio Bianco, wo wir über Nacht bleiben. Am den nächsten beiden Tagen kommen wir an mehreren Seen vorbei; am Lago inferiore di Valscura treffen wir auf die Reste alter Militärbauten, die wohl aus dem späten neunzehnten Jahrhundert stammen und in malerischer Lage am Seeufer als Unterkünfte für die Soldaten dienten, die hier einen wichtigen Übergang verteidigten. Über mehrere Pässe gelangen wir zum Rifugio Emilio Questa und tags drauf weiter zum Rifugio Remondino. Im Gegensatz zur Livio Bianco sind diese beiden Hütten recht gut besucht – sie sind leicht erreichbar, und es ist Wochenende. Außerdem bietet die Remondino-Hütte den kürzesten Aufstiegsweg zur Cima Argentera Sud und guten Zugang zu interessanten Kletterrouten.

Vom Rifugio Remondino wandern wir zunächst wieder ein Stück talwärts, dann geht's bergauf zum Col du Guilié, wo wir die Grenze zu Frankreich überschreiten. Auf italienischer Seite ist der Bergpfad markiert und gut erkennbar, auf französischer Seite dagegen gibt es keine Wegmarkierungen mehr, und in dem steinigen Gelände sind auch keine Trittspuren auszumachen. Da auch diverse Steinmännchen in völlig unterschiedliche Richtungen weisen, sind wir hier froh, das GPS-Gerät dabei zu haben. So finden wir problemlos zur Refuge de Cougourde. Die Hütte ist Ausgangspunkt für interessante Kletterrouten am gleichnamigen Berg, jetzt, am Saisonende, ist allerdings nicht mehr viel los.

Am nächsten Tag erreichen wir mit dem GR 52 einen der bekannteren französischen Weitwanderwege. Dieser »Grande Randonnée« traversiert den französischen Teil der Seealpen und führt über 95 km von Saint Dalmas bis an die Mittelmeerküste bei Menton. Hier sind wir nicht mehr allein, der GR scheint bei Franzosen recht beliebt zu sein. Der Weg ist zunächst gemütlich, geht dann aber recht steil hoch zum Pas du Mont Colomb und auf der anderen Seite ebenso steil wieder runter, bevor es dann wieder gemütlich zum Refuge de Nice geht.

Über die Baisse du Basto und durch verschiedene Hochtäler wandern wir heute zur Baisse du Valmasque. Dort verlassen wir den Hauptweg und gehen weiter aufwärts zum 2872 Meter hohen Mont Bégo. Teilweise auf gutem Weg, teilweise schmal am Steilhang, teilweise weglos mit GPS-Hilfe erreichen wir den Gipfel. Oben herrliche Aussicht nach allen Seiten, südwärts bis zur Mittelmeerküste. Noch ein Stück oben entlang, dann geht es stetig abwärts bis zum heutigen Ziel, dem Refuge des Merveilles. Die Hütte ist voll belegt, was bei ihrer Lage nicht verwundert: Malerisch am Lac Long Supérieur gelegen ist sie wichtiges Etappenziel auf dem GR 52 und leicht erreichbarer Ausgangspunkt für Spaziergänge ins Vallée des Merveilles. So sind wir froh, schon Monate vorher reserviert zu haben; Wanderer ohne Reservierung werden gnadenlos weitergeschickt.

Am nächsten Vormittag machen wir eine Führung zu den Felszeichnungen im Vallée des Merveilles mit. Außer uns noch vier Franzosen, freundlicherweise wechselt der Guide zwischen Englisch und Französisch ab, so dass wir alles ganz gut mitbekommen. Das Tal ist die zweitgrößten Fundstelle prähistorischer Gravuren im Alpenraum, etwa 40000 Felsgravierungen sind dort in durch die letzte Eiszeit geglättete Flächen der Felsen eingeritzt. Die Besichtigung ist daher ein absolutes Muss, wenn man in der Gegend ist.
Nach der Führung beschränken wir uns am Nachmittag auf eine kürzere Etappe, wandern über die Baisse de Valmasque am Lac du Basto und Lac Noir vorbei zum Refuge de Valmasque am Lac Vert.

Wieder auf einsameren Wegen erreichen wir heute über mehrere Pässe wieder italienisches Terrain, bleiben dort im Rifugio Pagari, der mit 2650 Metern höchsten und wohl auch abgelegensten Hütte der gesamten Seealpen. Aladar, der Hüttenwirt dort, ist Indien-Fan und überzeugter Vegetarier – er serviert uns ein köstliches vegetarisches Abendessen.

Auf dem Weiterweg über den Passo del Ghiacciai treffen wir mehrmals auf Steingeißen mit ihren Jungen, die uns neugierig beobachten. Auch ein Rudel Steinböcke, dem wir begegnen, hat keinerlei Scheu und lässt uns bis auf etwa fünf Meter herankommen. Offenbar haben sie gelernt, dass Menschen keine Gefahr für sie darstellen, zumindest bisher keine gegenteiligen Erfahrungen gemacht. Wir bleiben im Rifugio Soria Ellena, gehen am folgenden Tag – leider meist im Regen – weiter zum Rifugio Morelli-Buzzi.

Am letzten Tag werden wir nochmals vom Wetter verwöhnt, die Sonne strahlt von einem wolkenlosen Himmel. So beschließen wir, zum Passo dei Detriti zu gehen, um auf der Tour einmal über die 3000 zu kommen. Wir gehen ein Stück den gestrigen Weg zurück, dann steil aufwärts zum Passo del Porco und erreichen über Steine und Gletscherschliff, teilweise weglos, den Detriti-Pass. Oben am Pass zweigt die Aufstiegsroute zur Cima Argentera vom Passübergang ab. Ein einladendes Felsband, das bis knapp unter den Gipfel an der schroffen Ostwand des Berges entlangläuft. Und dessen Einladung man einfach nicht ausschlagen kann. Der Weg ist schmal und sehr ausgesetzt, erfordert konzentriertes Steigen. Zwei Problemstellen, an denen das Band unterbrochen ist, sind mit Fixseilen abgesichert, an denen man sich über die Felsplatten hangeln kann. Knapp unterm Gipfel ist dann noch eine steile Rinne zu erklettern, bevor man mit 3297 Metern den höchsten Punkt der Seealpen erreicht. Die Aussicht von oben ist phantastisch, ringsum die anderen Gipfel, tief unten der Lago del Chiotas, in der Ferne Cuneo und weit im Norden der Monte Viso, der alle Nachbarberge weit überragt.